No Future? - 36 Interviews zum Punk (Michael Fehrenschild / Gerti Keller/ Dominik Pietsch)
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Ein neues, liebevoll und seitenschwanger aufgemachtes Paperback-Druckerzeugnis zum Thema „Punk“ aus dem „Archiv der Jugendkulturen“/Berlin.
Darin kommen 36 Protagonisten aus Deutschland der frühen Jahre ins Gespräch mit den beiden Interviewern. Es werden Anekdoten und Erinnerungsfetzen ausgegraben und unterhaltsam und sehr kurzweilig von den jeweiligen Akteuren beschrieben: Trini Trimpop (Toten Hosen), Babette (Vaginas), Peter Hein (Fehlfarben), Deutscher W. (OHL), Dicken (Slime), Annette (Bärchen und die Milchbubis), Frank Z. (Abwärts), Martina (Östro 430), Pankow (Planlos), Karl Nagel (Kein Hass da) um nur einmal einige mit direktem Bandbezug zu nennen.
Im gegenwärtig häuslichen Umfeld sind auch die Porträtfotos geschossen, sowie die zum Teil ganzseitig und bizarr ästhetisch anmutenden Schnappschüsse und Fotos aus den 80ern im Umfeld von Partys, Konzert und Privatleben.
In unterschiedlich langen Sequenzen werden hier verschiedenste Fortführungen und Sichtweisen zum ehemals kleinsten gemeinsamen Nenner „Punk“ gebracht. Hochinteressant, was aus den damaligen Aufrührern heute geworden ist, was sie heute zu sagen haben und in welchem beruflichen/künstlerischen Umfeld sie sich bewegen. Es wird häufig an Stellen -wo es interessant erscheint oder unklar wird- nachgehakt, aber genauso häufig denkt man sich beim Lesen: Und nun? Jetzt wird’s spannend - was ist aus genanntem Freund heute geworden bzw. man wünscht sich noch mehr Nähkästchen und Hintergründe.
Bei „Bernd“ und seinen persönlichen Eindrücken/Schlussfolgerungen und Engagements in einem engen Zirkel von internationalen Querdenkern/Machern/Geschäftsführern und deren Versuch der Einflussnahme, sowie Bernds Ermutigung, selber den Steuerknüppel zu übernehmen, wären ein paar Sätze mehr aufschlussreicher gewesen.
Andere Szene-Akteure, die bis heute aktiv sind (z. B. „Dicken“ und „Deutscher W.“) lernt mensch aus einer anderen Sichtweise kennen. Es wird sich ausgekotzt und zurechtgestutzt, und man spürt, dass die Energie und die Wut noch in fast allen brodelt.
Es dreht sich im Buch u. a. um Selbstfindungstrips, Auslandserfahrungen, Drogenentzug, Bezug zur heutigen Szene, Vater/Mutterfreuden, „Deutsche Heimat“ („Ille“- sehr aufschlussreich!), innerliche Verbundenheit zu alten Idealen und neuen, z. T. (pseudo-) religiösen Ansichten...
Mehr erfahren (was im Rahmen eines solchen Buches mit recht kurzen Interviews wahrscheinlich schwerlich umsetzbar ist) würde man vielleicht auch gerne über „Isi“, dem Grundschullehrer und Fulltime-Punk, „Margita“ (mit Jahrgang 1942 noch Kriegskind und mit Theater/Kammerspiel-Background in die Szene gerutscht), „Frank“ über die Lettristen und seinem evtl. Hang zur Paläo-Seti(?), „Xaos“ teils philosophische Ansichten (herrliches Zitat: „Ein Punk ist auch im Anzug ein Punk – und ein Idiot ist auch in der Lederjacke ein Idiot“), Personaldirektor „Jörg“ im Automobilbereich, „Schorsch Kamerun“...
Auch das eher noch nachträglich eingeschoben wirkende, aber immens wichtige, Interview mit „Pankow“ aus Ostberlin kommt etwas zu knapp. Und auch hier wird scharf ausgeteilt und zurückgeschossen: „Wessis mit Iro haben sofort auf die Fresse gekriegt und die Lederjacke weg. Für uns war klar: Ihr seid nur verschissene Modepunks, wir sitzen hier im Knast“. Um Punk in der DDR als Zuspätgeborener und Wessi(!) zu begreifen nimmt man am besten ein eigenes Buch („Auch im Osten trägt man Westen“) oder einen Film („Too much future - Punk in der DDR“) zur Hand. Punks wurden dort nicht als „Abschaum“ oder „prügelnde Clowns“ von Prolls, Teddis, Bullen und Co. verhauen sondern von Stasi-Schergen wegen vorsätzlichem, hinzu gedichteten politischen Aktivismus missbraucht, gefoltert und zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt (letzteres v. a. wenn sie nicht als Überläufer der Statssicherheit Rapport über ihre Freunde abliefern wollten!). Das ist ein großer Unterschied, welches dem unterschiedlichen System an sich zuzuschreiben ist.
Viele „ehemalige“, so liest es sich nicht nur zwischen den Zeilen, sind gar nicht so weit entfernt von den Idealen der damaligen, recht kurzen Schaffens,- und Zerstörungszeit, andere lassen sich auch heute immer noch treiben und wieder andere haben komplett gebrochen.
Allesamt ein buntes, zusammengewürfeltes Sammelsurium an Individuen und ihren zum Teil kuriosen, traurigen, kämpferischen und sehnsüchtigen Geschichten rund um das Thema einer prägenden Jugendkultur, welches sie z. T. bis in die heutige Zeit begleitet bzw. welche sie geformt und sozialisiert hat.
Etwas schade finde ich persönlich noch den (gewollten?) Schwerpunkt auf die Düsseldorfer Punkszene, die ja gemeinhin als eher künstlerisch/avantgardistisch bekannt war und mit den vorhandenen Läden als eine „Urzelle“ des Punk in D.land gilt. Aber was ist mit den Leuten aus Bremen, Hannover, München, Stuttgart und anderen Großstädten die dem Virus Punk vielleicht ein, zwei Jahre später anheim fielen?
Ich denke eine etwas vollständigere, auch andere lokale Szenen umfassende Ausleuchtung hätte noch einige spannende und auch komplementierende Anekdoten mehr ans Tageslicht gebracht. Klar, wo fängt man an, wo zieht man den Trennstrich. Schwierig, aber ein Versuch mit einem weiterführenderen Städte-Fokus wäre bestimmt durchaus spannend gewesen.
Im Ganzen liegt hier jedoch ein schön aufgemachtes, schnell zu lesendes weiteres Werk vor, dass etwas Licht in den Superkosmos „Punk“ werfen kann aber nicht muss. Übersichtlich und facettenreich statt allumgreifend und totporträtierend. Eine kurzweilige und unterhaltsame Bettlektüre!
(NeuroticAsshole//09.03.14)